Digitalisierung ist ein Change – WARUM SCHEITERN TROTZDEM SO VIELE PROJEKTE IMMER AN DEN SELBEN PUNKTEN?

Wenn über Digitalisierung gesprochen wird, scheint für alle klar zu sein, dass damit ein Veränderungsprozess verbunden ist. Auf Nachfrage zeigt sich allerdings auch, dass Digitalisierungs-Projekte immer noch technikzentriert und mit einem klassischen Planungs-Paradigma angegangen werden. Erst wenn die Akzeptanz der Mitarbeitenden in Frage steht, kommt Change Management zur Anwendung.

Unser Verständnis von „Change“ ist umfassender und konkret: Change umfasst von Anfang an immer Elemente einer Organisation wie Prozesse, Strukturen, Kultur, Führung und Personalentwicklung, im Rahmen der Mission und der strategischen Ziele eines Unternehmens.

Change braucht immer die Mitwirkung der Betroffenen im Unternehmen, beginnend bei der Entwicklung eines gemeinsamen Zielbilds (Was soll nach der Einführung der IT oder der Digitalisierung anders sein soll als bisher?). Zu klären sind Begriffe, Zusammenhänge im Ökosystem, die erforderliche Flexibilität unter VUCA-Bedingungen und schließlich das Vorgehen im Change-Prozess. Dass es an derartigen Klärungen mangelt, erkennen wir an den regelmäßig wiederkehrenden Befunden (zum Beispiel: McKinsey, PWC, Standishgroup).

Warum Projekte zu 60-70 Prozent scheitern:
1. Unklares Ziel
2. Unklarer Projektauftrag
3. Unrealistische Pläne
4. Nur anfangs formulierte Risiken
5. Verleugnung von Problemen und Schwierigkeiten im Umgang  mit Komplexität
6. Inkonsequenz, etwa in der Anwendung agiler Verfahren
7. Unsicherheit in der Besetzung und Fluktuation
8. Mangelnde Stakeholder-Analyse und Kommunikation
9. Ständige Debatten aufgrund dieser Unklarheiten und Unsicherheiten

Das ist allerdings „Oberflächen-Statistik“ und symptomatisch für Verhaltensmuster im Unternehmen. Keiner kommt auf die Idee, dahinter zu schauen – vielmehr werden reflexartig bekannte Ratschläge zur Einhaltung des PM-Kanons wiederholt, was bisher nichts gebracht hat.

Die wirklichen Gründe für nachhaltigen Change

Bei Ergründung der genannten Punkte kommen wir nach Auswertung unserer Erfahrungen zu Fragestellungen, die in Change-Prozessen hilfreich sein können (siehe Bild 1).

Mithilfe solcher Erkenntnisse kann sich eine erste Entscheidung ergeben, was wann in welchem Umfang mit wem als „Change“ angepackt werden sollte; daraus lässt sich eine erste Roadmap ableiten.

Gleichzeitig wird deutlich, dass insbesondere mittelständische Unternehmen für ein solches, reflektiertes Vorgehen erfahrene, ganzheitlich denkende Berater brauchen, die nicht nur ihre Produkte, Rezepte und Systeme verkaufen wollen, sondern Change-Prozesse als eine gemeinsame Herausforderung verstehen.

Statt Technologie und Systeme in den Mittelpunkt der Diskussion zu stellen, halten wir es für günstiger, herauszuarbeiten, was für den Kunden eine sinnvolle Wertsteigerung und für die Mitarbeitenden eine deutliche Verbesserung der Arbeitsbedingungen sein kann. Hierzu braucht es die Beteiligung der Beschäftigten mit deren Perspektiven, Erkenntnissen und Lösungsideen. Damit werden auch das Engagement und die Akzeptanz für den Change – quasi nebenher – unterstützt.

Gründe des „Scheiterns“

Wie kann es passieren, dass qualifizierte Projektleiter/-managerInnen, die ihren Projektmanagement-Kanon gelernt haben, die bekannten Erfolgsvoraussetzungen wie zum Beispiel Auftragsklärung oder Stakeholder-Analyse nicht realisieren und Projekte anhand solcher Punkte immer wieder scheitern?

Einige Vermutungen dazu:

1. Es wird an dem Grundsatz der einmaligen Auftragsklarheit festgehalten, oder der Grundsatz wird frustriert aufgegeben, weil nicht realisierbar. Wenn man aber den „change-Angang“ verinnerlicht hat, geht man davon aus, dass alles im Fluss ist und immer wieder nachgeklärt werden muss und sich der Auftrag erst im Zuge der Projektarbeit konkretisiert. Daher sprechen wir von „iterativem“ Vorgehen.

2. Eng damit verknüpft ist die so genannte Planungs-Illusion: in einem komplexen und dynamischen Umfeld führt eine lineare Planungs-Logik zwangsläufig zu enormem planerischem Aufwand und zu einem immer größer werdenden Gap zwischen geplantem und realem Zustand und zu Konflikten.

3. Zudem funktioniert die Terminsetzung schon wegen des ungeeigneten oder fehlenden Priorisierungsprozesses nicht. In vielen Unternehmen setzt man sich nicht realistisch mit den vorhandenen Kapazitäten, fachlichen Möglichkeiten und Gegebenheiten des Projekt-Portfolios auseinander und wenn, dann meist ohne Einbeziehung der Betroffenen. Wir stellen in unserem Vorgehen das Organizational Change Management in den Mittelpunkt, ein Aspekt, der hinter guter Projektorganisation und Konfliktmanagement auf Platz 3 einer evidenzorientierten Studie liegt (Komus u.a., 2015). Es geht darum, in unser Denken und Handeln auch das Ökosystem des Change-Projekts einzubeziehen: das Umfeld im Unternehmen, Kunden, Zulieferer, Banken, Mitbewerber (Häußling et al., 2012; Borgert, 2014, Fachgruppe systemisches PM, 2018).

Einige Hinweise zum Organizational Change Management aus unserer Erfahrung:

Zielklärungen oder Planungen sollten nur in offener, konstruktiver Auseinandersetzung mit den Betroffenen stattfinden. Es geht darum, sich auf einen machbaren Weg zu einigen, um das Respektieren von Grenzen, um die gemeinsame Klärung von Engpässen.

Für das iterative Vorgehen ist wichtig, dass die nötigen Schritte und Erprobungen mit einem ehrlichen Feedback durchgeführt werden, um daraus Entscheidungen zum weiteren Vorgehen treffen zu können. Dazu ist eine passende Fehler-Kultur zu etablieren, um Lernen zu ermöglichen.

Bezüglich der Stakeholder-Analyse oder Risiko-Analyse wird zum Teil auch mit fehlender Zeit argumentiert. Das sehen wir nicht als Scheiter-Grund – vielmehr ist nicht die Zeit, sondern die mangelnde Verständigung mit dem Auftraggeber über die Notwendigkeit solcher Analysen. Eine wirkungsvolle Unterstützung des PL/PM wäre aus unserer Sicht, ihn fit zu machen in Verhandlungsführung in Verbindung mit der Rollenklärung und der Konfliktklärung.

Oft wird mit der Umständlichkeit oder Ineffektivität einer Methode argumentiert. Daraus ergibt sich auch die Frage, wie geübt der PL/PM in einer Methode ist, welche Varianten oder Alternativen er kennt. Wenn etwa die klassische Stakeholder-Analyse zur Diskussion steht, dann kann im agilen  Umfeld alternativ ein mitlaufender Prozess des Checks von projekt- und situationsrelevanten Personen genutzt werden.

Entlang des Prozesses lernen wir mit den beteiligten Personen auch deren unterschiedliche Wirklichkeitskonstruktionen kennen, die für den Change  relevant sein können. Es braucht gutes Zuhören, gegebenenfalls auch einen Perspektivenwechsel, und damit verbunden immer wieder einen Blick auf die unterschiedlichen Dimensionen einer Organisation und ihrer Veränderung.

Kurzum:

Zum Change Management gehört ein steter Prozess der Zielklärung, Planung und Organisation mit zunehmendem Erkenntnisgewinn und Entscheidungsfortschritt.

In Ergänzung dazu: es geht auch noch um den „Reload“ von Denkmustern, Konzepten und Modellen.

Change-Reload

Es geht uns in einem effektiven Change Management also um „das big picture“, um Verstehen, um an den richtigen Stellen ansetzen zu können. Wir haben allerdings erkannt, dass es parallel darum gehen muss, die üblichen Denkmuster, Konzepte und Modelle in der Auseinandersetzung mit Organisation, mit dem Menschen und mit Veränderung ebenfalls zu überwinden – zumindest zu hinterfragen, ob sie noch zeitgemäß sind. Mit dieser Idee sind wir auf den Ansatz von Scharmer, den er in „Theory U“ beschreibt (2014), gestoßen. Dabei geht es nicht nur um den Umbau von Denk-Modellen, sondern auch um die Einbeziehung unserer emotionalen Bewertungen. Wir nennen dieses Vorgehen nun in Anlehnung an ihn „Change-Reload“ und verändern damit im Rahmen eines WS-Formats im Austausch unter Scheiter-Erfahrenen Denkmuster und Konzepte und damit – zumindest von der Möglichkeit her – auch das Handeln. Wir stellen Hypothesen zum Scheitern auf und diskutieren Handlungsoptionen für die jeweiligen Projekte.

Wir haben mittlerweile mit diesem Format mehr als 15 Workshops und Abend-Veranstaltungen für verschiedene Communities und Firmen  durchgeführt, immer angepasst an die Fragestellungen der Teilnehmenden. Dabei zeigten sich folgende Widersprüchlichkeiten, die man durchaus als Paradigmenwechsel bezeichnen kann.

Lessons Learned aus den Reload-Workshops

Die bisherigen Erkenntnisse geben Hinweise für Wege aus den bekannten Denkund Handlungsmustern:

1. Besprechen Sie mit dem Auftraggeber die Vorgehensweise für den Change. Beziehen Sie hier schon Vertreter von Betroffenen ein. Entwickeln Sie gemeinsam eine grobe Roadmap, die neben den fachlichen Themen auch die Kommunikation beschreibt: Workshops mit den Usern, World Cafés, Open Spaces, Feedback-Schleifen, Change-Forum mit allen Stakeholdern.

2. Denken sie an die Glaubwürdigkeit der Kommunikation und die Wirkung von Botschaften. Begegnen Sie der Gerüchteküche schnell. Wiederholen Sie Informationen – auch wenn Sie ungeduldig werden. Seien Sie in den Inhalten konsistent und in Ihrer Kommunikation verlässlich.

3. Laden Sie wichtige Player zur Mitarbeit ein. Setzen Sie Multiplikatoren ein. Achten Sie auf eine saubere Rollenklärung und die Arbeitsbelastung der Beteiligten. Diskutieren Sie die Prioritätensetzung, Umverteilung von Aufgaben, arbeitsorganisatorische Maßnahmen.

4. Richten Sie die Schrittfolge und die Taktung auf die Bedürfnisse der Beteiligten aus. Achten Sie durchgehend auf die Orientierung des Prozesses am Zukunftsbild und auf die Transparenz des Prozesses. Entscheiden Sie schnell und nachvollziehbar.

5. Achten Sie auf Stimmungen und Energie: Zeigen sich Unzufriedenheiten, gibt es Situationen, in denen die Motivation leidet? Dann sollten Sie eingreifen. Gehen Sie auch Konflikten nicht aus dem Weg und tragen Sie sie konstruktiv aus.

6. Führen Sie Kommunikationsformate und Foren ein, mit deren Hilfe ein offener Austausch auch zu Problemen und Fehlern willkommen ist.

7. Führen Sie Meetings kurz und ergebnisorientiert durch, überladen Sie sie nicht. Richten sie für spezielle Themen eigene, effektive Arbeitsgruppen ein oder eine „Pilotgruppe“, und lösen Sie sie wieder auf, wenn ihr Zweck erfüllt ist.

8. Schauen Sie beim Monitoring nicht nur auf den technischen Fortschritt,sondern auch auf den Prozess, die Aufgaben, die Rollen, die Zusammenarbeit im Team, das individuelle Erleben(vgl. Retrospektiven im agilen Umfeld). Vereinbaren Sie Kriterien, auf die Sie gemeinsam achten wollen.

9. Behalten Sie das Zielbild im Blick, wenn das neue System und die Anwendung reibungslos laufen, die neuen Prozesse und Strukturen funktionieren, die Kunden und User die neuen Möglichkeiten motiviert und qualifiziert nutzen sollen und überprüfen Sie immer wieder per Feedback-Schleifen.

Wir hoffen, dass Sie Anregungen für Ihre Change-Arbeit nutzen können, um Ihre Projekte vor dem Scheitern zu bewahren.

Dr. Klaus Wagenhals, Dr. Frank Kühn

www.it-daily.net | Mai/Juni 2025